Bei der Selbstverletzung spielt die Absicht, sich mit dieser das Leben zu nehmen, meist zunächst keine Rolle. Beim Zufügen der Verletzung ist es überwiegend nicht das Ziel der Betroffenen, ihr Leben zu beenden, sondern es ist für sie vielmehr eine Strategie, ihre erlebten Emotionen (bspw. Wut, Trauer, Selbsthass) zu versorgen, wodurch etwaige Tendenzen zum Suizid eher aufgeschoben werden. Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen ist als Ausdruck einer starken seelischen und emotionalen Belastung zu verstehen und kann mitunter auch ein Anzeichen für eine vorliegende psychische Erkrankung sein. Diese kann wiederum bei ausbleibender Behandlung langfristig zu Selbsttötungsgedanken und Selbsttötungshandlungen führen.
Die häufigste Form der Selbstverletzung sind Schnittverletzungen, welche durch beispielsweise Messer, Rasierklingen, Nadeln oder andere scharfe und spitze Gegenstände zugefügt werden (bekannt als Ritzen). Diese werden sich von den Betroffenen meist an Händen, Armen und im Gesicht, seltener auch an den Beinen oder im Bereich der Brust oder des Bauches beigebracht. Aber auch andere Formen der Selbstverletzung, wie das Verätzen oder Verbrennen, das Beißen erreichbarer Körperstellen, sich selbst oder wiederholt gegen harte Gegenstände schlagen, das Ausreißen von Haaren oder das Besprühen von einer Körperstelle mit Deodorants, bis Erfrierungen auftreten, werden von den Betroffenen gewählt.
Ursachen für selbstverletzendes Verhalten
Selbstverletzendes Verhalten ist häufig die Reaktion auf emotional belastende und überfordernde Umstände oder Erlebnisse. Den Betroffenen gelingt es noch nicht, mit ihren Emotionen, die dadurch ausgelöst werden, anders umzugehen. Es ist daher für sie eine Form des Abbaus innerlicher Spannung und zudem für die Betroffenen eine Strategie, um ihre Emotionen zu regulieren. Betroffene berichten davon, durch die Selbstverletzung Empfindungen wie Aggression, Einsamkeit oder Selbsthass abschwächen zu können. Es ist für sie häufig die einzige Möglichkeit, mit Problemen und herausfordernden Situationen umzugehen. Für manche Betroffene ist sich selbst zu verletzen, auch eine Art der Selbstbestrafung.
Das selbstverletzende Verhalten als Handlung, um mit belastenden Situationen umzugehen und das emotionale Erleben zu versorgen, kann sich zu einer Art Sucht entwickeln und erscheint alternativlos. Um die von den Betroffenen als Entspannung empfundene Entlastung fortwährend zu erreichen, steigert sich häufig die Intensität der zugefügten Verletzungen (bspw. Schnitttiefe, Anzahl und Häufigkeit der Selbstverletzungen). Entsprechend ist das Kennenlernen von Handlungsalternativen und das Etablieren von anderen Regulationsstrategien wichtig, damit sich Betroffene nicht mehr selbst verletzen.
Falsche Annahmen zum selbstverletzenden Verhalten
Des Öfteren wird selbstverletzendes Verhalten vom sozialen Umfeld als pubertäres Handeln angesehen, was allerdings keinesfalls zutreffend ist, denn auch Erwachsene können selbstverletzendes Verhalten zeigen. In der Gruppe der 15- bis 35-Jährigen zeigen etwa zwei Prozent klinisch relevantes selbstverletzendes Verhalten. Ebenso ist die generelle Zuordnung zur Gothic-Szene oder anderen, beispielsweise satanistischen Sekten oder ähnlichen Gruppierungen, unzutreffend. Zwar kleiden sich betroffene Jugendliche womöglich häufiger dunkler, jedoch zumeist aus anderen Motiven (bspw. Ausdruck der Grundstimmung, Anpassung an einen modischen Stil). Auch ist das selbstverletzende Verhalten kein Phänomen der heutigen Zeit: Bereits Sigmund Freud beschrieb dieses als "den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Aggression gegen die eigene Person".
Hilfe für Betroffene
Als Betroffene:r von selbstverletzendem Verhalten ist es wichtig zu wissen, dass es Möglichkeiten und dabei unterstützende Hilfsangebote gibt, um das Zufügen von Selbstverletzungen aufzugeben. Auch wenn es schwierig wirkt, da die Selbstverletzung als alternativlos empfunden wird, um innerliche Spannungen zu lösen und erlebte Emotionen zu regulieren, sollten dennoch langfristige Folgen nicht außer Acht gelassen werden. Zu diesen zählt nicht nur die Bildung von Narben, die den weiteren Lebensverlauf von der Selbstverletzung zeugen werden und das eigene Selbstwertgefühl so langfristig beeinflussen können.
Alternative Strategien
Es gibt eine Vielzahl an möglichen alternativen Strategien, die Betroffene anwenden können, anstatt sich selbst zu verletzen (sog. Skills). Hierbei muss jeder für sich selbst herausfinden, welche ihm persönlich am besten helfen, selbstverletzendes Verhalten zu vermeiden. Deshalb ist es wichtig, mitunter auch mehrere Strategien auszuprobieren, wenn die erste nicht die Selbstverletzung ersetzen konnte. Auch sollte darauf geachtet werden, dass hilfreiche Strategien jederzeit angewendet werden können; das heißt, wenn für diese ein Hilfsmittel erforderlich ist, muss dieses auch jederzeit verfügbar sein.
Möglicher Umgang beim Drang, sich selbst zu verletzen:
- Emotionsausdrücke, beispielsweise intensives Weinen oder lautes Schreien zulassen
- Belastende Situationen / Orte verlassen und stattdessen an der frischen Luft spazieren oder joggen gehen
- Durch Aktivität (Sport treiben, Hausaufgaben oder -arbeiten erledigen, etwas Neues wie ein Musikinstrument lernen) für Ablenkung sorgen
- Emotionen kreativ ausleben und verarbeiten, beispielsweise durch Zeichnen, Malen oder das Schreiben von Gedichten, Liedtexten oder Kurzgeschichten
- Sich selbst etwas Gutes tun, wie zum Beispiel ein entspanntes Bad nehmen, ein Buch oder Comic lesen, einen Film anschauen oder laut Musik hören
Dem Drang, sich selbst zu verletzen, vorbeugen oder ihn kontrollieren:
- Herausfordernde Situationen verändern, bestimmte Orte (beispielsweise solche, an denen sich sonst verletzt wird) meiden und belastende Gedanken nicht zulassen
- Den Gegenstand, mit dem sich sonst selbst verletzt wird, gegen etwas anderes richten (bspw. die Rasierklinge gegen einen Collegeblock)
- Selbst die Verletzung um 15 Minuten verschieben und, wenn es geklappt hat, es weitere 15 Minuten versuchen (bekannt als: the fifteen-minutes game)
- Sich selbst Fragen stellen: Warum mache ich es? Was sind die Folgen? Hilft es mir wirklich?
- Wenn es gar nicht anders geht, sich die Selbstverletzung erlauben, aber vorher selber Grenzen setzen (bspw. nur einen oberflächlichen Schnitt) und diese einzuhalten versuchen
Mögliche Alternativen zur Selbstverletzung:
- Ein Gummiband um das Handgelenk legen und es schnalzen lassen
- Eiswürfel feste auf die Haut drücken beziehungsweise sie fest in der Hand halten oder eiskalt duschen gehen
- Versuchen, ein Telefonbuch zu zerreißen oder ein rohes Ei zu zerdrücken
- Auf ein Kissen oder eine Matratze einschlagen (eventuell einen "Wutball" gestalten, der geknetet, geworfen und angeschrien werden kann)
- Rote Linien mit einem wasserlöslichen Filzstift auf die Haut malen
- Kontakt zu anderen vertrauten Menschen aufnehmen (beispielsweise mit Freunden treffen oder telefonieren)
Anlaufstellen für Betroffene
Jeder Betroffene, der bereit ist, sich Hilfe zu suchen und diese anzunehmen, sollte sich an eine psychologische Beratungsstelle oder einen Psychologen wenden, um individuell Strategien gegen die Selbstverletzung erarbeiten, aber auch die Ursachen, die zu diesem führen, bearbeiten zu können. Denn so ist es am besten möglich, langfristig das selbstverletzende Verhalten zu überwinden und auch die Lebenssituation zu verbessern.
Die schnellste Hilfe finden Betroffene in einer psychologischen Beratungsstelle, denn bei Psychologen sind zumeist die Wartezeiten bis zu einem Termin leider länger. Die Beratung in einer Beratungsstelle ist, wie bei einem Psychologen, absolut vertraulich und zudem auch kostenfrei. Das Hilfetelefon zur Suchtvorbeugung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet Unterstützung dabei, eine gut erreichbare Beratungsstelle zu finden: 0221 / 892031 (montags bis donnerstags von 10:00 - 22:00 Uhr, freitags bis sonntags von 10:00 - 18:00 Uhr).
Informationen für Angehörige und das soziale Umfeld
Für Angehörige von Betroffenen (Eltern, ältere Geschwister, Verwandte) und das soziale Umfeld (Freunde, Klassenkameraden / Arbeitskollegen, Lehrer) stellen sich viele Fragen bezüglich des Umgangs mit selbstverletzendem Verhalten. Zunächst sollte auf typische Anzeichen für Selbstverletzungen geachtet und diese richtig gedeutet werden, auch wenn sie zu erkennen zumeist sehr schwierig ist. Betroffene leiden häufig unter einem gestörten Schlafrhythmus, vernachlässigen ihr soziales Umfeld und gehen ihren Interessen nicht mehr im gewohnten Maße nach. Narben und sichtbare Verletzungen versuchen sie meist durch das Tragen langer Kleidung, auch beim Sport und bei warmer Witterung, zu verbergen. Auch die Veränderung der Stimmung und starke Stimmungsschwankungen sind Anzeichen. In jedem Fall sollten Angehörige und das Umfeld besonders aufmerksam werden, wenn Betroffene von der empfundenen Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit erzählen. Sichtbare Warnzeichen sind häufig auftretende Verletzungen, wie beispielsweise:
- Schnittverletzungen, besonders an Armen und Beinen
- Schürfwunden
- punktuelle Verbrennungen oder punktartige Stichverletzungen
- Hämatome ("blaue Flecken")
Hilfe anbieten und Verständnis zeigen
Betroffene sprechen häufig nicht oder nur äußerst ungern mit ihren Angehörigen und ihrem sozialen Umfeld über das, was sie herausfordert oder belastet. Wenn allerdings beobachtet oder wahrgenommen wird, dass jemand sich selbst Verletzungen zufügt, also selbstverletzendes Verhalten zeigt, sollte dieses keinesfalls ignoriert werden. Wichtig ist es jedoch, den Betroffenen nicht unter Druck zu setzen. Es muss damit gerechnet werden, dass die Betroffenen mit unglaubwürdigen Erklärungsversuchen oder ausweichendem bis vermeidendem Verhalten reagieren, wenn sie auf Beobachtungen und Wahrnehmungen offen angesprochen werden, die auf selbstverletzendes Verhalten hindeuten.
Ein solches Gespräch sollte keinesfalls unnötig lang gestaltet und es sollten auch keine Erklärungen für das gezeigte Verhalten eingefordert werden. Hilfreich ist es, die Beobachtungen und Wahrnehmungen möglichst sachlich anzusprechen und dabei die eigene Gesprächs- und Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Dabei sollte die eigene Besorgnis ohne Vorwurf und Druck zum Ausdruck gebracht werden. Die Bedürfnisse und das Erleben des Betroffenen sollten hierbei klar im Fokus stehen. Auch wenn es dem Betroffenen noch nicht gelingt, sich aktiv am Gespräch zu beteiligen, so erfährt er dennoch, dass es Menschen gibt, denen er wichtig ist und auf deren Unterstützung er vertrauen darf.
Eigene Grenzen beachten
Wenn der Betroffene gerade versorgungsbedürftige Verletzungen aufweist, können diese mit Einverständnis des Betroffenen versorgt werden (praktische Hilfeleistung). Hierbei muss beachtet werden, dass gegebenenfalls eine ärztliche Behandlung erforderlich sein kann. Sollte einem die Versorgung schwerfallen (bspw. weil die Wunde stark blutet), ist es wichtig zu betonen, dass sich dieses nicht in der verletzten Person, sondern in der Wunde begründet ("Wenn ich Blut sehe, wird es mir immer mulmig"). Es sollten allerdings auch die eigenen Grenzen benannt und gewahrt werden. Denn eine aufopfernde, selbst als belastend empfundene Unterstützung ist weder für den Helfenden noch den Betroffenen wirklich hilfreich. Stattdessen sollte dann eine weitergehende Unterstützung bei der Bewältigung der Ursachen für das selbstverletzende Verhalten, also belastender Situationen oder einer etwaigen psychischen Erkrankung, angeboten werden. Diese kann zum Beispiel die Begleitung zu einer psychologischen Beratungsstelle oder die gemeinsame Terminvereinbarung bei einem Psychologen sein.
Hilfe zur Selbsthilfe
Betroffene müssen selbst eine Problemeinsicht entwickeln und an ihrem Verhalten etwas verändern wollen, damit eine Unterstützung von außen wirklich hilfreich sein kann. Die Selbstverletzung ist keinesfalls als Provokation oder oppositionelles Verhalten zu sehen, sondern muss als ernst zu nehmende Strategie des Betroffenen verstanden werden, seine Emotionen in Situationen zu regulieren, die ihn herausfordern, und so diese Situationen auf seine Weise zu bewältigen. Neben alternativen Strategien ist es wichtig, auch die individuellen Auslöser, die zur Selbstverletzung führen (bspw. schulischer Stress, Mobbing, Perspektivlosigkeit, soziale Isolation), zu bearbeiten. Seine Unterstützung anzubieten ist richtig, allerdings sollte die Annahme stets dem Betroffenen freigestellt sein. Aufgebauter Druck führt meist nur zu Abwehrverhalten oder weiterem Rückzug. So sind die Signalisierung von Verständnis für das Erleben des Betroffenen, der Ausdruck der eigenen Besorgnis und das Angebot von Unterstützung zumeist hilfreicher als Vorwürfe, Kontrolle und ein Versuch, Veränderungen zu erzwingen.
Selber Rat suchen
Angehörige und das soziale Umfeld von Betroffenen sollten sich idealerweise selber Unterstützung für den Umgang mit dem Verhalten des Betroffenen suchen. Besonders Eltern, die verständlicherweise häufig eher emotional als rational reagieren und bei denen eventuell das Verhältnis zum eigenen Kind bereits durch andere Konflikte belastet ist, sollten sich beraten lassen. Anonymen und kostenfreien Rat geben psychosoziale Beratungsstellen, die es in nahezu jeder Stadt (entweder in städtischer, kirchlicher oder freier Trägerschaft) gibt.